07.03.2022
Hilfe in der Not: Flucht in die Friedenskirche
Sie sind dem Krieg in der Ukraine entflohen und in der Friedenskirche angekommen: 41 Flüchtlinge, vor allem Frauen und Kinder, haben Zuflucht in Thüringen gefunden. Familien aus Bad Liebenstein und Vacha geben ihnen ein Dach über den Kopf und Halt in einer absoluten Notsituation.
Das junge Paar ist eng aneinander gerückt. Das Baby im Arm, nicht einmal ein halbes Jahr alt, schläft. Die Mutter lehnt an den Schultern ihres Mannes, ihr fallen immer wieder die Augen zu. Sein Blick ist starr, die Erschöpfung ist ihm ins Gesicht geschrieben. Eine ältere Dame sucht eine Steckdose, um dem Handy Saft zu geben und ein Lebenszeichen in die Heimat zu schicken. Yarik, der mit seiner Mutter und Großmutter aus Zaporozhye in der Südukraine geflüchtet ist, schläft auf der Kirchenbank. An den Kopf des Achtjährigen hat sich Hündin Zayka gekuschelt. Wie eine Leibwächterin mit Fell.
Alle suchen Schutz. Vor dem Krieg in der Ukraine, vor Bomben und Raketen, vor Zerstörung und dem Tod. Sie gehören zu den hunderttausenden Menschen, die ihre Heimat nach dem Angriff des russischen Militärs am 24. Februar verlassen mussten. Hunderttausende sind noch auf der Flucht und harren unter widrigsten Bedingungen an der Grenze aus.
Es ist kurz nach 4 Uhr, als der Bus den Berg hinaufrollt und sich die Helfer auf den Stufen der Friedenskirche in Bad Liebenstein versammeln. Im Bus sitzen 41 Menschen, vor allem Mütter und Großmütter mit ihren Kindern und Enkelkindern. Als ihr Gepäck ausgeladen und vor dem Altar abgestellt ist, ist klar: Sie haben ihr Leben hinter sich gelassen. In die Rollkoffer und Reisetaschen, die Ikea-Tüten und Plastikbeutel hat nur das Allernötigste gepasst.
Fremden vertrauen
Es ist ruhig in der Kirche. Die Menschen sind zu müde zum Reden, zu erschöpft zum Weinen. Noch im Dunkeln sind sie an einem Ort angekommen, on dem sie mit großer Wahrscheinlich noch nie gehört haben. Sie sehen Gesichter, die sie nicht kennen, hören eine Sprache, die sie nicht sprechen. Sie müssen Menschen vertrauen, mit denen sie noch nie Kontakt hatten. „Wir werden alles dafür tun, dass Sie sich hier sicher und wohl fühlen. Wir werden Ihnen helfen, sich zurecht zu finden“, verspricht Bürgermeister Michael Brodführer (CDU).
Er heißt die Geflüchteten willkommen, Mikhail Kolchinskiy übersetzt. Sie erklären, dass sie bei Familien unterkommen werden. Dass sie eine Liste erstellen, um sie einander zuzuordnen, dass keine Familie getrennt werde. Martin Rosenstengel, Dezernent des Wartburgkreises, und Oliver Koch, Leiter des Amts für Versorgung und Migration, unterstützen. Sie greifen immer wieder zum Telefon, am anderen Ende der Leitung ist Vachas Bürgermeister Martin Müller, der, gemeinsam mit Daniela Tischendorf, das Netzwerk vor Ort aktiviert. Am Ende kommen 18 Geflüchtete in Bad Liebenstein unter, 16 in Vacha. Vier sind direkt nach der Ankunft von Freunden abgeholt worden, drei reisen mit dem Zug weiter in die Schweiz.
Netzwerk greift
Der Prozess dauert, doch die Helfer bleiben an der Seite der Geflüchteten. Sie versuchen, die Ankunft so leicht wie möglich zu machen, Mut zu machen in einer Situation, für die es keine Erklärung gibt. Sie reichen Kaffee und Tee. Es gibt warme Suppe, die Gastronom Karlheinz Becker spontan am Vorabend gekocht hat. Auf dem Tisch stehen Brötchen, Käse und Wurst, Bananen und Zimtschnecken.
Die Ehrenamtlichen sind Teil des Hilfsnetzwerks „Ukraine“, das sich erst wenige Tage zuvor gefunden hatte. Zwei Mal hatten sich ungefähr 40 Bürger, Vertreter der Stadtverwaltung, der evangelischen und katholischen Kirchgemeinden, der drei Kurkliniken und der Kinder- und Jugendkunstschule Wartburgkreis sowie Gastronomen, Hoteliers und Gewerbetreibende in der Friedenskirche versammelt, um erste Weichen zu stellen für eine mögliche Aufnahme von Geflüchteten. Was am Donnerstagabend noch im Konjunktiv besprochen wurde, ist nicht einmal 48 Stunden später Realität. „Dass der Anruf dann schnell kommen wurde, hätten wir nicht gedacht“, sagt Michael Brodführer.
Die Ereignisse haben sich überschlagen, doch Bad Liebenstein ist vorbereitet. Es wird nicht geredet, sondern angepackt. Koordinator Eberhard Heller, Mitglied im Gemeindekirchenrat, kann auf Freiwillige zurückgreifen, die sich bereit erklärt hatten, Geflüchtete aufzunehmen, noch bevor der Bus angekündigt war. Auf die Eltern von Sandra Grollmitz, 76 und 78 Jahre alt, zum Beispiel. Oder auf Daniel Neumann, Betreiber der Pension „Olga“, der insgesamt sieben Ukrainer aufgenommen hat. „Das ist selbstverständlich. Was sie erlebt haben, wünscht man keinem“, sagt er.
Privater Hilfstransport
Organisiert worden ist der Transport von Sven Lehmann und seiner Frau Aleks. „Wir saßen Montag vor dem Fernsehen. Meine Frau hat geweint und angefangen, per SMS zu spenden“, sagt der Mann, der einen Hausmeisterdienst in Eisenach betreibt. Das Paar wollte nicht mehr nur zuschauen. Wenige Minuten später hat er nach Busunternehmen recherchiert und ist im Reiseunternehmen Schieck aus Behringen fündig geworden, das bereits mehrere Reisen in die Region – auch mit dem Pfarrerehepaar Kotsch aus Dermbach – unternommen hatte.
Die Fahrer Alexander Schieck und Olaf Wegener erklärten sich bereit, Lebensmittel wie Mehl und Zwieback, Medizinprodukte und Sachspenden zu transportieren, die zum Teil in Polen verblieben, zum Teil ins Kriegsgebiet gebracht werden. Aleks Lehmann fuhr mit, um bei der Verständigung an der Grenze bei Przemysl zu helfen. Denn schon vor der Abfahrt stand fest: Der Bus wird nicht leer nach Thüringen zurückfahren, sondern Geflüchtete aufnehmen.
Gemeinsamer Einkauf
Es ist Nachmittag. Nach einer heißen Dusche und ein wenig Schlaf trifft sich die Gruppe, die in Bad Liebenstein geblieben ist, in der Kinder- und Jugendkunstschule in Schweina, die in den nächsten Wochen zu einem Treffpunkt werden soll. „Hier könnt ihr euch austauschen, Kaffee trinken, das W-Lan nutzen und eine kreative Beschäftigung für eure Kinder finden“, sagt Vereinsvorsitzende Aline Burghardt.
Im Hintergrund rührt das Netzwerk weiter, um das Ankommen und die Integration so leicht wie möglich zu machen. Am Montag haben sie Lebensmittel und die nötigste Kleidung gekauft. Spenden werden eingeworben, Deutschunterricht soll anlaufen. Am Samstagabend sind die Geflüchteten und ihre Gastfamilien zu einer Vorstellung in das Comödienhaus Bad Liebenstein eingeladen. Gleichzeitig beschäftigen sich die Helfer mit den Folgen von Flucht und Vertreibung, eine Psychologin hat Tipps für den Umgang mit traumatisierten Menschen gegeben.
Die Wärme, mit der das Helferteam die Menschen in Empfang nimmt, lässt Berührungsängste verblassen. „Wir sind sehr dankbar, dass Sie uns helfen. Es ist wunderbar, dass Unbekannte zu Freunden werden“, sagt Valeriia Ziziukina. Die 22-Jährige ist am 2. März mit ihrer Mutter Tatjana aus Charkiw geflüchtet, zuerst mit dem Zug nach Ternopil und dann weiter mit dem Auto zu einem Kontrollpunkt an der Grenze. Sie studiert Anglistik und Germanistik, um als Dolmetscherin zu arbeiten. Jetzt ist ihre Universität zerstört, genauso wie der Friedensplatz in ihrer Heimatstadt. „Das ist symbolisch“, betont sie.
Im Schockzustand
Sie findet Kraft, über ihre Flucht zu reden. Andere (noch) nicht. „Wir sind alle im Schock. Ich denke an meine Oma, die in einem Dorf in der Nähe von Charkiw wohnt. Sie ist allein“, sagt sie. Nach einer kurzen Pause fügt sie selbstbewusst hinzu: „Wir wollen wieder zurück. Wir wollen unser Land wieder aufbauen.“
(Gastbeitrag von Susann Eberlein)