07.03.2022
Hyde-Park-Flair in der Rhön
Jeder konnte sich Gehör verschaffen
Die Initiative „Mobile Dorfmitte“ und die Evangelische Kirchgemeinde Oechsen haben ein Event organisiert, bei dem jeder Bürger zum Mikrofon greifen konnte. Das offene Format soll Raum für Austausch und Entwicklung bieten.
In der Speakers‘ Corner, dem Versammlungsplatz am nordöstlichen Ende des Hyde Parks in London, sind Gespräche über die britische Königsfamilie Tabu. Bei einem ähnlichen Format in Oechsen waren die Regeln weitaus weniger streng, hier durfte jedes Thema auf den Tisch kommen. Die Initiative „Mobile Dorfmitte“ hatte am Freitagabend zu Vorträgen und Impulsen rund um die Linde vor dem Kindergarten geladen, wo ein Pop-up-Gemeindehaus, ein Stammtisch unter freiem Himmel entstand.
Wie in der originalen Speakers‘ Corner konnte in Oechsen tatsächlich jeder Bürger – ob vorab angemeldet oder ganz spontan – seinem Anliegen Gehör verschaffen. „Wir möchten mit dem Format Raum geben für den Austausch, bei dem sich Menschen verbinden und zum Beispiel über die Landentwicklung und die Zukunft im Dorf diskutieren können. Jeder Sprecher hat fünf bis zehn Minuten Zeit, um sein Anliegen darzulegen“, erklärte Hanna Heiderich von der Mobilen Dorfmitte. Die 25-Jährige aus Oechsen ist Mitgründerin, setzt die Aktionsforschung im ländlichen Raum um und moderierte das Event, das mit der Evangelischen Kirchgemeinde Oechsen auf die Beine gestellt und auf den Weltgebetstag mit Fokus auf die Gastländer England, Wales und Nordirland abgestimmt war.
Bürgermeister Wilfried Bleisteiner (BI Oechsen) griff als erster Sprecher zum Mikrofon, um Werbung für seinen Nachfolger bzw. seine Nachfolgerin zu machen. Am 12. Juni werden die Bürger zur Wahlurne gebeten, um einen neuen Verwaltungschef zu bestimmen. „Ich bin ein alter Mann und trete nicht wieder an. Aber unser Gemeinderat ist gut und mit vielen jungen Menschen aufgestellt“, sagte Bleisteiner. Er wurde 2016 zum Bürgermeister gewählt. In der Amtszeit fiel die Entscheidung gegen die Fusion Oechsens mit Dermbach. „Der Haushalt ist gut aufgestellt. Wir möchten solange es geht eigenständig bleiben“, sagte er.
Einprägsame Bilder
Danach berichteten Jens Kürschner und Florian Schlotzhauer über die Spendenaktionen, die nach der Eskalation des Krieges – vor Ort und an der polnisch-ukrainischen Grenze – aus dem Boden gestampft worden waren. „Wir sind mit Hilfsgütern hingefahren und haben Menschen mit zurückgebracht. Die Aktion ist als Kurzschlussreaktion entstanden, war aber die genau richtige Entscheidung. Hier sind die Menschen sicher“, sagte Kürschner. „Was wir an der Grenze gesehen haben, kann man sich nicht vorstellen. Wir haben leere, tote Blicke gesehen und waren erschlagen von den tausenden Betten mit Babys, Kindern, Frauen und alten Opas. Selbst den Pfundsmännern vom MC Oechsen sind die Kinnladen heruntergefallen bei so viel Elend und Notstand. Das sind Bilder, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben“, sagte Schlotzhauer.
Felicitas Kotsch warb für das Hilfsnetzwerk in Dermbach und die Zusammenarbeit der vielen Ehrenamtlichen über Gemeindegrenzen hinaus. Simon Ortner stellte das Programm „Denk Bunt im Wartburgkreis“ und Förderungen vor, die zivilgesellschaftliches Engagement sowohl finanziell als auch mit Man-Power unterstützen können, es sichtbar machen und mit anderen Akteuren vernetzen wollen. Die Bürgerinitiative Grundschule Oechsen machte sich indes für den Erhalt der Grundschule in Oechsen stark und sammelte Unterschriften. „Die Schule muss im Dorf bleiben“, betonte Manuel Bösser. Am heutigen Montag soll es um 18.30 Uhr einen Informationsabend im Sportlerheim geben. „Oechsen soll nicht nur ein Schlafort sein, sondern ein Ort mit Leben. Dazu gehört auch eine Schule“, sagte Bürgermeister Bleisteiner.
Rezepte für Zuhause
Nach den Vorträgen und Impulsen waren die Gäste eingeladen, sich an Tischen intensiver mit den Themen zu befassen, sich auszutauschen und zu vernetzen. Außerdem konnten sie dem hybriden Vortrag von Silicon Vilstal, einer Landentwicklungsorganisation aus dem Vilstal in Bayern, lauschen, in dem unter anderem über die „Rural Design Days“ berichtet wurde.
Abschließend haben Pfarrer Thomas Göhring und die Gemeindepädagogin Susi Heiderich die Kirche geöffnet, in der sie einen Vortrag zum Weltgebetstag und den Gastländern – mit Hilfe von Deko-Artikeln wie roten Bussen, Bildbänden und Teezubehör – vorbereitetet hatten. Hanna Heiderich stellte zudem den ‚Rural Coffee Caravan‘ vor, eine Organisation, die mit Wohnwagen und einem Kaffee-und-Kuchen-Angebot gegen Einsamkeit und Isolation im ländlichen Raum in England kämpft.
Statt eines gemeinsamen landestypischen Essens, wie es vor der Corona-Pandemie üblich war, wurden Rezepte verteilt, darunter für Erbensuppe mit Minze, Fish and Chips, irischen Eintopf und walisischen Zwiebelkuchen. Der Gottesdienst zum Weltgebetstag fand gestern Vormittag statt.
(Gastbeitrag von Susann Eberlein, Freiberufl. Journalistin)